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Fast wie ein Dschungelkind
Im DRK-Pflegeheim Sassnitz finden bis zu 20 mehrfach behinderte Kinder und junge Leute Wärme,
Zuneigung und ein Zuhause. Verängstigt. Verwahrlost. Vernachlässigt, Verprügelt. Das Schicksal
von Anja S. (Name von der Redaktion geändert) ist furchtbar. Ihre Mutter hat sie vernachlässigt.
Die junge Frau hatte mit sich selbst zu tun, trank Alkohol. Kein Mann blieb lange bei ihr. Sie schlug
ihre Tochter. Anja S. wuchs am Rande der Gesellschaft auf. Ohne Liebe. Ohne Zuneigung. Und unter
unmenschlichen Zuständen. "Als die mehrfach Behinderte Anja S. im Kleinkindalter zu uns kam, war sie
völlig verwahrlost. Sie konnte nicht einmal sprechen. Geschweige denn selbst essen.
Fast wie ein Dschungelkind",
erinnert sich Katrin Wollmann. Sie habe niemanden an sich herangelassen und keinen Körperkontakt erlaubt.
Die Pflegedienstleiterin im DRK-Pflegeheim Sassnitz ist noch heute gerührt, wenn sie die Erinnerungen wieder
bemüht. Seit 1991 gibt es diese Einrichtung in Sassnitz, sagt Bärbel Pälicke. Die 52-Jährige leitet das Haus
seit 2005. "Wir sind eine Einrichtung für mehrfach geistig und körperlich behinderte Kinder und junge Leute",
sagt sie. Die Bewohner sind nicht in der Lage ihren Lebensalltag selbst zu bewältigen. Das erledigen
insgesamt 19 Mitarbeiter - Pflegefachkräfte, Pflegehilfskräfte, Heilerzieher und Wirtschaftspersonal - für sie.
Rund um die Uhr. Ein Knochenjob: physisch und psychisch. "Dabei werden dem Personal teilweise enorme körperliche
und geistige Anstrengungen abverlangt", sagt Pälicke.
Jeder der 18 Bewohner hat sein ganz persönliches Schicksal. Einige, wie Anja S., haben ein schlechtes Elternhaus,
andere gar keines. In vielen Fällen ist eine professionelle Versorgung der Kinder und jungen Leute zu Hause so nicht
zu gewährleisten. Der jüngste Bewohner ist gerade einmal drei Jahre alt. Und blind. Sein Name ist Roman. Er liegt
in einem großen Bett, mit Gittern. Roman hat dunkle kurze Haare, große schwarze Kulleraugen und trägt eine graue
Strumpfhose. "Weil er nicht sehen kann, sind seine übrigen Sinne viel besser ausgeprägt, als bei anderen",
erklärt die Heimleiterin Bärbel Pälicke. Er liebt Musik. Durch Musikspielzeug erfährt er gerade seinen Tastsinn,
Vibrationen und das Gehör. Das passiert im Beschäftigungsraum des Hauses. Dort gibt es roten Teppich, unterschiedlich
große Bälle in allen Farben und Teddybären, Lichttherapie.
Daniels Passion sind Eisenbahnen. In seinem Zimmer hat der 21-Jährige deshalb seine eigene Holzeisenbahn aufgebaut.
Die ist rot und fährt im Kreis. Auf Holzschienen. Darauf ist er stolz. Oder Steffen, der liebt Autos. Der 21-Jährige
hat einen besonderen Teppich in seinem Zimmer. Darauf sind Straßen abgebildet, die er mit seinen Autos befahren kann.
Marie hat andere Vorlieben. Sie wird nicht müde auf die Mattscheibe zu gucken. "Jeder Bewohner hat seine Eigenarten",
sagt Bärbel Pälicke. Der Älteste ist 24. Viele von ihnen werden das Pflegeheim ihr Leben lang nicht mehr verlassen.
Manche Eltern kümmern sich auch hier noch liebevoll um ihre Sprösslinge, andere nicht. "Diese jungen Leute haben
bei uns ein neues Zuhause gefunden", sagt Pälicke. Ein Dach über dem Kopf. Liebe. Wärme. Geborgenheit.
"Das spiegelt sich auch in den Zimmern wieder", sagt die Heimleiterin. Die sind liebvoll nach den Wünschen der
Bewohner gestaltet. Jedes für sich ist ein kleines Unikat. Es gibt eine Stereoanlage und ein TV-Gerät.
Auch Anja S. lebte im Pflegeheim. Insgesamt 18 Jahre lang. "Als sie zu uns kam war sie total verwahrlost."
Sie war geschlagen worden, hatte bis dahin keinerlei Zuneigung erfahren. "Es gibt nichts schlimmeres als von der
Gesellschaft ausgegrenzt zu werden", sagt Pflegedienstleiterin Katrin Wollmann. Die Folge waren eine frühkindliche
Hirnschädigung, massive Verhaltensstörungen. Sie wurde aggressiv - gegen andere und sich selbst. Sie schlug, biss,
riss sich die Haare aus. "Wenn wir nicht aufgepasst haben, benutzte sie zum Abwaschen oder Baden kochend heißes
Wasser." Im Pflegeheim versuchten die Pfleger ihr Vertrauen zu gewinnen.
Es gibt es keine Gewalt - egal was passiert
ist, lautete die Devise. "Das hat Jahre lang gedauert", sagt Katrin Wollmann. Regelmäßigkeit, Vertrauen und Sicherheit
spielten eine entscheidende Rolle, damit sie sich von ihren Ängsten lösen konnte. Durch immer wieder kehrende Zuneigung
hat sie dann selbstständig mit Messer und Gabel essen gelernt. Und sie hat sogar sprechen gelernt. Zwar nicht in ganzen
Sätzen, aber in Wortgruppen. Sie konnte sich damit verständigen. Bei Anja S. hatte das Personal des DRK-Pflegeheimes
Sassnitz Erfolg: Heute lebt sie in einer Wohngruppe, arbeitet in einer Behindertenwerkstatt.
IVO HILGENFELDT
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| Bild: DRK |