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Ostsee-Zeitung, 21.01.2009Spielen, träumen, lernen
Was machen Kinder mit Behinderungen? Schüler von der Insel Rügen haben dazu recherchiert.
Patzig (OZ). Johannes ist ein fröhlicher Rolli-Fahrer. Der Sechsjährige trägt an seinen Füßen Orthesen, Schienen zur Stützung der Muskulatur. Im sogenannten Stehstuhl übt der kleine Mann, was für die meisten Kinder in seinem Alter selbstverständlich ist: die aufrechte Haltung des Körpers. Das ist anstrengend, trotzdem lächelt Johannes.
Der Junge gehört zu den jüngsten Schülern der DRK-Förderschule zur individuellen Lebensbewältigung in Patzig auf Rügen. 53 Kinder mit einem Handicap werden an diesem Ort betreut. „Handicap ist eine Bezeichnung für eine soziale und/oder eine körperliche Benachteiligung aufgrund einer Behinderung“, erklärt Schulleiterin Christine Porath (50). Die Kinder sollen lernen, wie sie ihren Alltag bewältigen können. Dazu gehört neben Therapien vor allem ein normaler Schulunterricht.
Massagedecke gegen Stress
Kassandra (9) und Julian (8) sind gerade dabei, das gemeinsame Frühstück vorzubereiten. Johann (13) hilft, das Gemüse aufzuschneiden. „Das ist anstrengend“, gibt er zu. „Wir sind stolz, dass Johann so viele Fortschritte macht“, sagt Christine Porath. „Er isst jetzt keinen Brei mehr, sondern hat gelernt, Brot zu essen und an der Schulspeisung teilzunehmen.“ Ein großer Erfolg für den Jungen.
Die sechsjährige Marie-Luise liegt auf der Massagedecke. Sie nutzt die Zeit, um sich zu beruhigen – der Schulalltag ist manchmal doch ziemlich aufregend. Dominik (13) trainiert seine Fingerfertigkeit. Er öffnet Dosen und verschließt Flaschen. Tätigkeiten, die er im Alltag allein bewältigen muss. „Ja, mir macht das großen Spaß“, verrät er. „Wir haben auch ein Projekt“, berichtet Jessica (8). Es heißt: Alles aus Müll. Die Kinder sammeln Gegenstände, aus denen sie Faschingskostüme basteln
Jede Klasse hat sieben bis zehn Schüler. Das, was für gesunde Menschen selbstverständlich ist, ist für die Kinder mit einem Handicap oft schwer zu bewältigen. Sie lernen unter anderem, allein den Tisch zu decken, das Besteck zu legen, die richtigen Teller auszuwählen und den Tisch abzuräumen und abzuwischen. Rick (14) muss überlegen, wie viele Teller benötigt werden. Er weiß, dass Sebastian (14) heute nicht mitessen wird. Er ist krank. Also fünf Teller.
Normale Schulbücher sind zu kompliziert
Nach zwölf Schuljahren wissen die Schützlinge, was auf sie zukommt. Viele werden später in einer Werkstatt für Behinderte arbeiten. Bis dahin heißt es lesen, schreiben und rechnen lernen. Das ist manchmal nicht so einfach, denn für Robert (14) und seine Freunde gibt es oft kein geeignetes Lehrmaterial. Die normalen Schulbücher sind zu kompliziert für die Schüler in Patzig. Also fertigen die Lehrer kurzerhand selbst geeignete Unterrichtsmittel an.
„Jeder lernt, sein Leben nach der Schulzeit möglichst selbstständig meistern zu können“, sagt Schulleiterin Christine Porath. Dazu gehören zum Beispiel der Umgang mit Geld, das Einkaufen oder auch die Einhaltung der Hygiene.
Auch der Gang zur Toilette wird trainiert
Lehrerin Ilona Zillmann (53) erwartet ihre Schützlinge zum Unterricht. Kunst und Gestaltung stehen auf dem Programm. „Wir üben die Fingerfertigkeit und das saubere Arbeiten.“ Aus Moosgummi, Holz und Pfeifenreiniger entstehen kleine Zwerge. Nebenan gießen Schüler der Abschlussklasse Blumen und trainieren den selbstständigen Toilettengang. „Da Menschen mit Behinderung die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft sind, gebührt ihnen besondere Fürsorge“, sagt Lehrerin Edeltraut Bunge (54).
Im Deutschunterricht legen Schüler mit Hilfe von Symbolen einfache Sätze und freuen sich, wenn sie den Namen eines Mitschülers richtig aus ihrer Lernbox suchen. Plötzlich springt Mathias (18) auf, rennt umher und klatscht in die Hände. Er lässt sich in den „Snoezelraum“, ein Zimmer für die Entspannung, bringen, um auf dem Wasserbett auszuruhen.
Ole (10) will Polizist werden
Große Pause. Auf dem Hof herrscht das bekannte Schulgedränge. Spielen, Toben, Lachen, Reden. Wie an anderen Schulen auch. Lucas (11) interessiert sich für das Mittelalter. Sue-Anne (11) mag ihren Computer. Tom (12) rümpft die Nase – er treibt lieber Sport. Ole (10) möchte Polizist werden. Alle Patziger Schüler haben Träume, Wünsche und Ideen. „Unsere Mädchen und Jungen sind wie alle anderen Schüler – nur mit Handicap“, sagt die Schulleiterin.
Mittag. Ein Schüler stößt eine Tasse um, ein anderer kleckert – niemand ist erschrocken. Schnell springt ein Nachbar auf und beseitigt das Missgeschick. „Hier sind die Kleinen und Großen ein Team“, sagt Frau Porath. Johannes, der fröhliche Rolli-Fahrer, wird gefüttert. Dann lacht der Kleine – er hat aufgegessen.
Klasse 8b, Regionale Schule „Am Rugard“, Bergen

Schüler mit Handicaps der DRK-Förderschule in Patzig auf Rügen. In einem Therapieraum halten sie sich mit Gymnastik fit.
Foto: Christian Rödel