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01.11.2011, OstseeZeitung
Auf der Flucht vor den Kosmonauten
Im Psychosozialen Wohnheim des DRK in Bergen helfen Experten Menschen, die mit ihrem Leben wieder klarkommen wollen.
Von Holger Vonberg
Bewohner Friedhelm hat dem Rasen im Garten des DRK-Heimes einen Herbstschnitt verpasst. Fotos: H. Vonberg
Bergen –„Ich bin Kosmonaut, lebe in einer Raumkapsel“, sagt Günther Schmidt (Name geändert). „Mein Kopf ist ein Universum. Dort, hinter dem Bullauge, lauern die Außerirdischen. Vielleicht auch ein Reporter, der über mich schreiben will. Ich würde mich ihnen stellen. Aber meine Haare gefallen mir heute nicht. Darum: Funkstille.“ Schmidt dreht sich um und geht – und sieht sich noch einmal vorsichtig um. Die Außerirdischen könnten ihm folgen. Oder der Reporter.
Schmidt, der Kosmonaut, ist um die 50 und lebt im Psychosozialen Wohnheim des DRK in Bergen. Wenn er seine Raumkapsel verlässt, dann darf kein Wind wehen –wegen seiner Haare. Da passt er auf. Er will doch nur die Sonne auf der Haut spüren, hören, wie die Vögel zwitschern. Aber wenn die Außerirdischen nach ihm greifen wollen, ist er schnell wieder in seiner Raumstation zurück. Im Heim, Adresse: Kosmonautenweg 5.
Schmidt lebte viele Jahrzehnte mit seiner Mutter in einer für ihn heilen Welt. An Alkohol fehlte es nie. Der Hochprozentige habe ihn entlastet und ihm geholfen, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen. So regelmäßig, wie er trank, besuchte er auch die psychosoziale Tagesstätte. Doch immer öfter kamen sie, die Außerirdischen. Sie lachten über seine zerzauste Frisur. Über seine Haare, die weniger wurden. Und er wusste genau: Sie werden sich ekeln vor der Glatze, die er bald haben würde, diese Fremdlinge.
Der Alkohol konnte die innere Unruhe nicht mehr stillen. Der Unrast folgten Antriebslosigkeit und Selbstmordgedanken. Das war vor zehn Jahren. Ein Arzt riet ihm, in das DRK-Wohnheim für psychisch Kranke nach Bergen zu ziehen. Dort fand Günther Schmidt seine neue Umlaufbahn.
Wie Friedhelm. Auch der 62-Jährige hat eine Trinkerkarriere hinter sich. Und ein arbeitsreiches Leben. „Ich ging noch nicht zur Schule, da konnte ich schon Kühe melken“, erinnert er sich. Der Alkohol ließ seinen Körper und seine Seele verfallen. „Ich habe von einem Tag auf den anderen mit dem Saufen aufgehört. Der Arzt hatte mir gesagt, dass ich meinen nächsten Geburtstag nicht erleben würde, wenn ich so weiter mache. Jetzt bin ich vier Jahre trocken.“
Friedhelm lebte viele Jahre im ehemaligen DRK-Heim im Schloss Ralswiek. Das Turmzimmer war sein Reich. Die Wände grün von rankenden Pflanzen und feuchten Mauern. Seit 1999 ist das Heim im Kosmonautenweg nun sein Zuhause.Der Mann musste früher in der Mühle von Patzig 100 Kilo schwere Mehlsäcke schleppen. Auch das ist lange vorbei. Heute ist er oft mit der Gießkanne unterwegs, denn er ist im Heim der „Krutbock“, der Krautbock, der Gärtner. Diesen ehrenamtlichen Job hat er sich einfach genommen.
Der Außenbereich ist Friedhelms Revier. Auch das hat er selbst festgelegt. Der Garten, ein Schmuckstück. Und sein Zimmer – ein Gewächshaus. Seinen Pflanzen, es sind über 40 Töpfe, gibt er mehr Raum, als er sich nimmt. „Ich habe meinen Fernsehsessel und mein Bett. Und im Sommer den Garten, um den ich mich kümmern kann. Das reicht.“ Die Rückkehr in ein „normales“ Leben gibt es für ihn nicht. Allein würde er zu Grunde gehen. Auch, weil er dann bitter zu spüren bekommen würde, dass er nichtmehr gebraucht wird.

Idyllisch gelegen: Das Psychosoziale Wohnheim in Bergen-Süd.
„Unser psychosoziales Wohnheim verstehen wir als ein Hilfsangebot. Es bietet die Chance zur Rückkehr in ein selbständiges Leben. Aber leider kann diese Chance von vielen Bewohnern nicht mehr genutzt werden. Zu tief sind die seelischen Narben“, sagt Birgit Dittmann, die Leiterin. Sie und ihre Mitarbeiterinnen kümmern sich wie eine große Familie um die 20 Bewohner. „Wir frühstücken gemeinsam, besprechen Termine, haben Sport- und Spielangebote im Programm, begleiten das Leben und lassen die Bewohner auch selbst das Leben planen, den Speiseplan aufstellen und die Freizeit gestalten – je nach Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die Selbstbestimmung ist ganz wichtig.“
Viele Angehörige sind dieser Herausforderung nicht gewachsen, überlassen ihre Kinder, Mütter oder Väter der Obhut des DRK. „Wir können das auch irgendwie verstehen. Zu groß ist die psychische Belastung für nahe Verwandte, vor allem, wenn der geistige Verfall ihrer Angehörigen unaufhaltsam voran schreitet.“
In mehreren Stufen wird versucht, den Betroffenen eine Tür zum eigenständigen Leben zu öffnen. Das stationäre Trainingswohnen in der Gemeinschaft und in angemieteten Wohnungen ist die erste Stufe, die ambulante Betreuung in der eigenen Häuslichkeit der zweite Schritt nach dem erfolgreichen ersten. Nur wenn das nicht funktioniert, bleibt der dritte Weg. Der führt ins Heim. Doch die Wartelisten sind lang. Und die werden länger, befürchten Statistiker, die sich mit der Altersstruktur, der psychischen Belastung und Perspektivlosigkeit in Mecklenburg-Vorpommern beschäftigen. Doch das interessiert weder Friedhelm noch Schmidt, der vor dem Spiegel steht und seine Haare kämmt.
Friedhelm hat den Rasenmäher für den Winter eingemottet. Dafür wartet in seinem engen Flur jetzt der Schneeschieber. Friedhelm weiß, in welcher Nacht es schneien wird. Dann holt ihn sein Wecker schon um 3 Uhr aus dem Bett. „Ich muss doch Schnee schieben vor dem Heim. Damit den Pflegerinnen nichts passiert.“ Auch Günther Schmidt soll nicht ausrutschen, wenn er seine Raumstation im Kosmonautenweg verlässt.
Auf der Flucht vor den Kosmonauten
Im Psychosozialen Wohnheim des DRK in Bergen helfen Experten Menschen, die mit ihrem Leben wieder klarkommen wollen.
Von Holger Vonberg
Bewohner Friedhelm hat dem Rasen im Garten des DRK-Heimes einen Herbstschnitt verpasst. Fotos: H. Vonberg
Bergen –„Ich bin Kosmonaut, lebe in einer Raumkapsel“, sagt Günther Schmidt (Name geändert). „Mein Kopf ist ein Universum. Dort, hinter dem Bullauge, lauern die Außerirdischen. Vielleicht auch ein Reporter, der über mich schreiben will. Ich würde mich ihnen stellen. Aber meine Haare gefallen mir heute nicht. Darum: Funkstille.“ Schmidt dreht sich um und geht – und sieht sich noch einmal vorsichtig um. Die Außerirdischen könnten ihm folgen. Oder der Reporter.
Schmidt, der Kosmonaut, ist um die 50 und lebt im Psychosozialen Wohnheim des DRK in Bergen. Wenn er seine Raumkapsel verlässt, dann darf kein Wind wehen –wegen seiner Haare. Da passt er auf. Er will doch nur die Sonne auf der Haut spüren, hören, wie die Vögel zwitschern. Aber wenn die Außerirdischen nach ihm greifen wollen, ist er schnell wieder in seiner Raumstation zurück. Im Heim, Adresse: Kosmonautenweg 5.
Schmidt lebte viele Jahrzehnte mit seiner Mutter in einer für ihn heilen Welt. An Alkohol fehlte es nie. Der Hochprozentige habe ihn entlastet und ihm geholfen, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen. So regelmäßig, wie er trank, besuchte er auch die psychosoziale Tagesstätte. Doch immer öfter kamen sie, die Außerirdischen. Sie lachten über seine zerzauste Frisur. Über seine Haare, die weniger wurden. Und er wusste genau: Sie werden sich ekeln vor der Glatze, die er bald haben würde, diese Fremdlinge.
Der Alkohol konnte die innere Unruhe nicht mehr stillen. Der Unrast folgten Antriebslosigkeit und Selbstmordgedanken. Das war vor zehn Jahren. Ein Arzt riet ihm, in das DRK-Wohnheim für psychisch Kranke nach Bergen zu ziehen. Dort fand Günther Schmidt seine neue Umlaufbahn.
Wie Friedhelm. Auch der 62-Jährige hat eine Trinkerkarriere hinter sich. Und ein arbeitsreiches Leben. „Ich ging noch nicht zur Schule, da konnte ich schon Kühe melken“, erinnert er sich. Der Alkohol ließ seinen Körper und seine Seele verfallen. „Ich habe von einem Tag auf den anderen mit dem Saufen aufgehört. Der Arzt hatte mir gesagt, dass ich meinen nächsten Geburtstag nicht erleben würde, wenn ich so weiter mache. Jetzt bin ich vier Jahre trocken.“
Friedhelm lebte viele Jahre im ehemaligen DRK-Heim im Schloss Ralswiek. Das Turmzimmer war sein Reich. Die Wände grün von rankenden Pflanzen und feuchten Mauern. Seit 1999 ist das Heim im Kosmonautenweg nun sein Zuhause.Der Mann musste früher in der Mühle von Patzig 100 Kilo schwere Mehlsäcke schleppen. Auch das ist lange vorbei. Heute ist er oft mit der Gießkanne unterwegs, denn er ist im Heim der „Krutbock“, der Krautbock, der Gärtner. Diesen ehrenamtlichen Job hat er sich einfach genommen.
Der Außenbereich ist Friedhelms Revier. Auch das hat er selbst festgelegt. Der Garten, ein Schmuckstück. Und sein Zimmer – ein Gewächshaus. Seinen Pflanzen, es sind über 40 Töpfe, gibt er mehr Raum, als er sich nimmt. „Ich habe meinen Fernsehsessel und mein Bett. Und im Sommer den Garten, um den ich mich kümmern kann. Das reicht.“ Die Rückkehr in ein „normales“ Leben gibt es für ihn nicht. Allein würde er zu Grunde gehen. Auch, weil er dann bitter zu spüren bekommen würde, dass er nichtmehr gebraucht wird.

Idyllisch gelegen: Das Psychosoziale Wohnheim in Bergen-Süd.
„Unser psychosoziales Wohnheim verstehen wir als ein Hilfsangebot. Es bietet die Chance zur Rückkehr in ein selbständiges Leben. Aber leider kann diese Chance von vielen Bewohnern nicht mehr genutzt werden. Zu tief sind die seelischen Narben“, sagt Birgit Dittmann, die Leiterin. Sie und ihre Mitarbeiterinnen kümmern sich wie eine große Familie um die 20 Bewohner. „Wir frühstücken gemeinsam, besprechen Termine, haben Sport- und Spielangebote im Programm, begleiten das Leben und lassen die Bewohner auch selbst das Leben planen, den Speiseplan aufstellen und die Freizeit gestalten – je nach Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die Selbstbestimmung ist ganz wichtig.“
Viele Angehörige sind dieser Herausforderung nicht gewachsen, überlassen ihre Kinder, Mütter oder Väter der Obhut des DRK. „Wir können das auch irgendwie verstehen. Zu groß ist die psychische Belastung für nahe Verwandte, vor allem, wenn der geistige Verfall ihrer Angehörigen unaufhaltsam voran schreitet.“
In mehreren Stufen wird versucht, den Betroffenen eine Tür zum eigenständigen Leben zu öffnen. Das stationäre Trainingswohnen in der Gemeinschaft und in angemieteten Wohnungen ist die erste Stufe, die ambulante Betreuung in der eigenen Häuslichkeit der zweite Schritt nach dem erfolgreichen ersten. Nur wenn das nicht funktioniert, bleibt der dritte Weg. Der führt ins Heim. Doch die Wartelisten sind lang. Und die werden länger, befürchten Statistiker, die sich mit der Altersstruktur, der psychischen Belastung und Perspektivlosigkeit in Mecklenburg-Vorpommern beschäftigen. Doch das interessiert weder Friedhelm noch Schmidt, der vor dem Spiegel steht und seine Haare kämmt.
Friedhelm hat den Rasenmäher für den Winter eingemottet. Dafür wartet in seinem engen Flur jetzt der Schneeschieber. Friedhelm weiß, in welcher Nacht es schneien wird. Dann holt ihn sein Wecker schon um 3 Uhr aus dem Bett. „Ich muss doch Schnee schieben vor dem Heim. Damit den Pflegerinnen nichts passiert.“ Auch Günther Schmidt soll nicht ausrutschen, wenn er seine Raumstation im Kosmonautenweg verlässt.